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Tiroler Tageszeitung, Leitartikel vom 09. November 2023. Von Wolfgang Sablatnig: „Eine Aufgabe, immer wieder“.

Tiroler Tageszeitung, Leitartikel vom 09. November 2023. Von Wolfgang Sablatnig: „Eine Aufgabe, immer wieder“.

Wien (OTS) Die Novemberpogrome 1938 waren ein erster Höhepunkt der systematischen Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten. Österreich hat seine Lektion gelernt. Die Verantwortung trifft aber nicht nur den Staat.

Am Abend des 9. November 1938 brach der Furor des Nazi-Regimes auch auf dem Gebiet des heutigen Österreich zum ersten Mal aus, angeleitet von den Machthabern des NS-Staats. Im Deutschen Reich brannten Hunderte Synagogen, der Mob plünderte und zerstörte jüdische Geschäfte. In Innsbruck wurden vier Menschen ermordet.
Spätestens nach dieser Nacht war klar, dass es Adolf Hitler und seine Schergen nicht bei der rechtlichen Diskriminierung der Juden belassen wollten. Am Ende stand der Holocaust mit sechs Millionen toten Juden und zahllosen Opfern anderer Minderheiten. Auschwitz und Treblinka geben dem industriellen Massenmord und dem Verlust aller Menschlichkeit einen Namen.
Vergangenheit? Ja. Aber eine Geschichte, die erschreckend aktuell ist. Österreich hat sich lange schwergetan im Umgang mit ihr. Noch in den 1980er-Jahren konnten die ÖVP und ihr Präsidentschaftskandidat Kurt Waldheim erfolgreich mit einem „Jetzt erst recht“ dessen falsche Angaben zu seiner Funktion im Zweiten Weltkrieg abtun.
Erst in den 1990er-Jahren gestanden Bundeskanzler Franz Vranitzky und Thomas Klestil die Mitverantwortung für die barbarische Geschichte ein. Österreich als Staat hatte zu diesem Zeitpunkt nicht existiert. Die Österreicherinnen und Österreicher aber bauten nach 1945 ihren Staat neu auf. Manche waren Opfer der Nazis. Andere aber waren Mittäter, Mitläufer oder schauten einfach weg.
Nach 1945 wollten alle wegschauen. Heute ist die Anerkennung der historischen Verantwortung rot-weiß-rote Staatsräson. Die Republik hat ihre Unterstützung für die jüdische Gemeinde aufgestockt, das Verbotsgesetz soll verschärft werden. Die Unterstützung für den jüdischen Staat Israel soll unterstreichen, dass Österreich gelernt hat. Dazu gehört die unbedingte Verurteilung des Terrors der Hamas, der bei Juden in der ganzen Welt das Trauma des Holocaust wieder lebendig werden ließ.
Hinter einem noch so eindrucksvoll vorgetragenen Bekenntnis lässt es sich gut verstecken. Antisemitismus war aber auch in Österreich immer vorhanden – und nimmt seit der Eskalation im Nahen Osten sogar zu. Vorschnelle Schuldzuweisungen bringen nichts. Die Suche nach den Ursachen muss ohne Tabus möglich sein und auch heik­le Themen wie die Migration ansprechen.
Wir müssen uns aber auch ganz persönlich fragen, ob wir genug gelernt haben. Es gab in der Pogromnacht und im Nazi-Staat Täter, Mitläufer und Opfer. Trauen wir uns zu sagen, wo wir gestanden wären?

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