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Die Digitale Spielsucht Ist Eine Ernste Angelegenheit

Wir haben mit Prof. Dr. Osman Tolga Arıcak, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Yesilay (türkische Grünes Kreuz Gesellschaft) über den Begriff der Techniksucht, die viele Unterarten erfasst, gesprochen. „Eine Sucht ist eine Krankheit und ihre Diagnose kann nur durch eine klinische Untersuchung gestellt werden.“, sagte Prof. Dr. Osman Tolga Arıcak und informierte uns über Kriterien, Risikofaktoren und Forschungen bezüglich Süchte.

Was verstehen wir unter Techniksucht? In welche Zweige unterteilt sie sich? Wie würden Sie die einzelnen Zweige zusammenfassen?

Techniksucht ist ein Begriff, der häufig für internetbezogene Süchte verwendet wird. Das Internet selbst ist kein süchtig machendes Element. Mit internetbezogenen Süchten meinen wir hauptsächlich Abhängigkeiten von Anwendungen im Internet. Diese beziehen sich insbesondere auf Suchtbereiche wie das Spielen von Onlinespielen, das Spielen von digitalen Glücksspielen, Online-Pornografie und Soziale-Medien-Sucht. 

Wie unterscheiden sich das Verhalten von Kindern und Erwachsenen bei Techniksucht?

Es bestehen hierbei viele Ähnlichkeiten. Ob Kind oder Erwachsener, die Person verliert die Kontrolle über die Nutzung der Anwendung im Internet. Es wird zur wichtigsten Aktivität in ihrem Leben. Die Person ist auf unterschiedlicher Weise (körperlich, sozial, wirtschaftlich) nachteilig betroffen, doch nutzt trotzdem die Anwendung weiterhin auf überdurchschnittliche Weise.

In der heutigen Zeit verbringt der moderne Mensch besonders viel Zeit in den sozialen Medien. Wie und in welchen Stadien beginnen soziale Medien süchtig zu machen?

Wie bereits erwähnt, gibt es vier Grundbedingungen für die Entwicklung einer Sucht während der Nutzung von technischen Elementen (Spiele, Glücksspiel, soziale Medien etc.): Die Tatsache, dass diese Anwendungen wichtiger als alles andere im Leben der Person werden, die Zeit, die während der Nutzung dieser Anwendung verbracht wird, das Scheitern an der Kontrolle über die Nutzung trotz Versuch dagegen anzugehen, die fortlaufende exzessive Nutzung dieser Anwendungen, obwohl diese zu finanziellen und moralischen Problemen im Leben dieser Person führen und die Beeinträchtigung der Funktionalität der Person. Wenn diese vier Bedingungen innerhalb von einem Jahr beobachtet werden, nennen wir dieses Verhalten „Sucht“. Wir diagnostizieren „Sucht“ nicht nur anhand der Zeit, die die Person an diesen Anwendungen verbringt.

… „Menschen mit Impulskontrollproblemen, Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, Hyperaktivitätsstörung, introvertierte Menschen, Menschen mit Depressionen und Angststörungen sind anfälliger für die Entwicklung einer Sucht.“…

Können wir auch von digitaler Spielsucht sprechen? Wie zeigt sich diese Situation?

Ja, die digitale Spielsucht ist ein ernstes Problem. Die Weltgesundheitsorganisation hat zwei Verhaltenssüchte offiziell als Krankheiten anerkannt; das eine ist die Sucht nach digitalen Spielen und das andere ist die digitale Glücksspielsucht.

Kann die häufige Nutzung von Mobiltelefonen auch als eine Art Sucht angesehen werden? Wenn ja, wie?

Es gibt noch keine solche Sucht, die von der Weltgesundheitsorganisation definiert wurde. Wenn die eben genannten Kriterien auch bei der nicht geschäftlichen Nutzung von Smartphones erfüllt werden, können wir vielleicht nicht von einer Sucht sprechen, aber wir können dies als „riskante Verwendung“ bezeichnen.

Seit wann ist der Begriff der „Techniksucht“ weltweit und in Türkiye akzeptiert? Seit wann betrachtet die Psychologie diesen Zustand als Störung?

Der Begriff der „Techniksucht“ wird seit 10-15 Jahren verwendet, aber wie bereits erwähnt, werden Begriffe wie die Sucht nach digitalen Spielen/Videospielen seit 40 Jahren verwendet. Die Weltgesundheitsorganisation verwendet den Begriff „Techniksucht“ noch nicht offiziell als eine Art der Sucht. Sie definiert digitales Spielen und Glücksspielsucht als Krankheit. Andere suchtbezogene Begriffe (soziale Medien, Smartphone, Pornografiesucht, Bildschirmsucht etc.) sind Themen, die seit 15-20 Jahren von verschiedenen Psychologen und Forschern in wissenschaftlichen Artikeln verwendet und erforscht werden. Um ein Verhalten jedoch offiziell als „Sucht“ zu bezeichnen, muss hierfür eine große Anzahl an entsprechenden Belegen vorliegen.

Gibt es andere Persönlichkeitsstörungen oder psychische Störungen, die die Grundlage der Techniksucht bilden? Kann man Menschen mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften nennen, die am häufigsten betroffen sind?

Personen mit Impulskontrollproblemen, einem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, einer Hyperaktivitätsstörung, introvertierte Personen und Personen mit Depressionen und Angststörungen sind anfälliger für die Entwicklung einer Sucht.

Welche Art von psychischen Störungen verursacht die zunehmende Techniksucht bei der Person, wenn keine zugrunde liegende Störung bekannt ist?

Wenn eine Angststörung oder eine Depression vorhanden sind, können diese sich verschlimmern; andernfalls können sich Angstzustände und Depressionen entwickeln. Wenn die Person beispielsweise süchtig nach Online-Glücksspielen ist, können mit der Zeit ernsthafte Probleme wie Lügen, Betrug von Personen im engen Kreis, Arbeitsplatzverlust und Scheidung auftreten.

Wie hoch ist das Risiko einer Techniksucht im Vergleich zu einer Sucht nach chemischen Stoffen? 

Drogen und Aufputschmittel sind für einen Menschen unter normalen Bedingungen nicht leicht zugänglich und zugleich auch kostspielig; aber Smartphones, Tablets, Computer und das Internet sind stets verfügbar. Familien kaufen und geben diese Geräte selbst in die Hände ihrer Kinder. Viele einjährige Babys essen bereits mit der Nutzung von Tablets. Daher ist unter diesen Umständen das Risiko einer Techniksucht höher.

Welche Behandlungsmethode wird bei diesen Abhängigkeiten angewendet?

Medikamente, Psychotherapie und sportliche/künstlerische Aktivitäten sind die am häufigsten verwendete Behandlungskombination.

Was raten Sie Kindern und Erwachsenen in Bezug auf dieses Thema? Ab welchen Situationen und Stadien besteht der Verdacht auf Sucht?

Das Leben sollte stets in Balance gelebt werden. Eine Person wird selbstverständlich hin und wieder mal Spiele am Computer spielen, aber auch Sport treiben, sich mit Kunst beschäftigen und verschiedene Hobbys haben. Ein Problem besteht dann, wenn die Technologie so verwendet wird, dass dies der Person schadet. Von einer Sucht kann gesprochen werden, wenn die Person die vier Symptome aufweist, die wir zur Suchtdiagnose erwähnt haben. Sucht ist eine Krankheit und ihre Diagnose kann nur durch eine klinische Untersuchung gestellt werden.

Es wird erwartet, dass sich das Internet und Metaverse in den kommenden Jahren von einem oft gebrauchten Begriff zu einer lebendigen Umgebung entwickelt. Glauben Sie, dass damit in Zukunft das Risiko einer Techniksucht steigen wird? Was soll getan werden?

Obwohl das Metaverse viele aufregende Möglichkeiten enthält, ist es zugleich eine Welt mit hohem Suchtrisiko. Sozialwissenschaftler sollten bezüglich dieses Themas mehr forschen, denn hierzu werden mehr Informationen benötigt. Darüber hinaus sollten Ingenieure und Sozialwissenschaftler Symposien zu diesem Thema veranstalten. Die Vor- und Nachteile für die Zukunft der Menschheit bezüglich dieser Themen sollten diskutiert werden. Neben der Forschung auf dem Gebiet der digitalen Spiel- und Glücksspielsucht bietet die Yesilay auch kostenlose Therapieunterstützung für Menschen mit dieser Sucht im Rahmen der Tätigkeiten der Yesilay Beratungsstellen.

…“Medikamente und Aufputschmittel sind für einen Menschen unter normalen Bedingungen nicht leicht zugänglich und zugleich auch kostspielig; aber Smartphones, Tablets, Computer und das Internet sind stets verfügbar.“

Was sagen uns die Statistiken über Techniksucht weltweit und in Türkiye?

Die umfangreichsten Studien zur digitalen Spielsucht oder Internet-Spielstörung wurden bisher in Europa und in Fernost Ländern durchgeführt. Als Ergebnis einer von Ferguson, Coulson und Barnett durchgeführten Metaanalysestudie zu 33 wissenschaftlichen Veröffentlichungen im Jahr 2011 wurde festgestellt, dass die weltweite Abhängigkeitsrate der Spielsucht 3 Prozent beträgt. King und seine Mitforscher hingegen geben diese Rate mit 8 Prozent an. Saunders und seine Mitforscher geben die Abhängigkeitsrate für digitale Spielstörungen/-sucht in westlichen Ländern mit 1–10 Prozent, in südamerikanischen und afrikanischen Ländern mit 1–9 Prozent und in Fernost Ländern mit 10–15 Prozent an. Die Amerikanische Psychiatrieverband teilte die von einem asiatischen Land erhaltenen Zahlen; es wurde hierbei festgestellt, dass 8,4 Prozent der Jungen und 4,5 Prozent der Mädchen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren die Kriterien für eine Spielstörung/-sucht erfüllten. Betrachtet man die Studien zur Spielstörung bzw. Spielsucht in der Türkei, so gibt es zunächst einmal keine umfangreiche Prävalenzstudie, die Türkiye im Allgemeinen repräsentiert. Die meisten Studien beziehen sich auf die allgemeine Internetsucht, digitales Spielen wird als Unterbegriff der allgemeinen Internetsucht betrachtet; es scheint jedoch, dass es nicht genügend Erkenntnisse zur Techniksucht gibt. Es zeigt sich, dass klein angelegte Studien zur digitalen Spielsucht meist Korrelationsstudien sind und keine Angaben zur Prävalenz gemacht werden. In einer Studie von Yesilay zur „problematischen Internetnutzung zum Spielen von Onlinespielen“ aus dem Jahr 2017 wurde jedoch festgestellt, dass 8,5 Prozent von 6116 jungen Menschen im Alter zwischen 12 und 19 Jahren, die in der gesamten Provinz Istanbul in die Studie integriert werden konnten, eine problematische digitale Nutzung von Onlinespielen aufweisen. Es wurde festgestellt, dass 3,4 Prozent dieser Gruppe weiblich und 5,1 Prozent männlich sind. Wenn man diese Zahlen genau betrachtet, so sieht man, dass sie mit den Zahlen der anderen Länder der Welt, die wir gerade als Beispiel angegeben haben, übereinstimmen. Aus anderen Ländern wird auch berichtet, dass Jungen mehr als Mädchen spielsüchtig sind.

„DIE WELTGESUNDHEITSORGANISATION HAT ZWEI VERHALTENSSÜCHTE OFFIZIELL ALS KRANKHEITEN ANERKANNT; DAS EINE IST DIE SUCHT NACH DIGITALEN SPIELEN UND DAS ANDERE IST DIE DIGITALE GLÜCKSSPIELSUCHT“ 

WER IST PROF. DR. OSMAN TOLGA ARICAK?

Prof. Dr. Osman Tolga Arıcak schloss im Jahr 1993 an der Universität Istanbul, Fakultät für Literatur den Fachbereich Erziehungswissenschaften ab. Er absolvierte seinen Master und seine Promotion an der Marmara Universität. Arıcak war zwischen 1994 und 1999 als wissenschaftlicher Assistent im Studienfach „Psychologische Dienste im Bildungswesen” der Fakultät für Bildung der Universität Trakya tätig und begann 1999 als Assistenzprofessor im selben Studienfach zu arbeiten. Zwischen 2006 und 2007 war er als Gastforscher an der Indiana University Bloomington im Fachbereich Psychologische Beratung und Pädagogische Psychologie und zwischen 2007 und 2008 als Fakultätsmitglied an der Tulane University New Orleans im Fachbereich Psychologie tätig. 2008 kehrte er an die Universität Trakya zurück und wurde 2010 außerordentlicher Professor für Pädagogische Psychologie. Im akademischen Jahr 2013-2014 arbeitete er als Forscher im Jugend- und Medienlabor des Berkman Centers an der Harvard Universität. Arıcak wurde 2015 Professor und führt seine Tätigkeiten als Hochschullehrer am Institut für Psychologie der Hasan-Kalyoncu-Universität fort. Prof. Dr. Osman Tolga Arıcak ist außerdem Mitglied der türkischen Vereinigung für psychologische Beratung und des Wissenschaftsrats von Yesilay.

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