Es war vor einigen Jahren … Wir hatten zusammen mit einer Kindergruppe in der Moschee in unserem Wohnviertel eine Veranstaltung über Kinderbücher organisiert. Als wir nach der Veranstaltung die Kinder den Eltern übergeben wollten, sahen wir zwei Kinder mit Behinderung auf dem Hof der Moschee umhergehen. Beide Kinder hatten sowohl eine körperliche als auch eine geistige Behinderung, doch einer der Kinder konnte ein wenig gehen, sodass es den Rollstuhl des anderen Kindes schieben konnte. Da sie nicht über eine Kontrolle ihres Körpers verfügten, waren die Arm- und Beinbewegungen nicht einem gesunden Menschen entsprechend. Während wir erschüttert von dem, was wir gesehen haben waren und überlegten, was wir machen könnten, schrie eines der Kinder, die an der Veranstaltung teilgenommen hatte, mit Ekel und Furcht auf. Es gab nichts was das schreiende Kind bedrohte, die Kinder waren mit sich selbst beschäftigt und waren ohne irgendwelche Erwartungen zur Moschee gekommen. Was war denn der Grund für das Verhalten des Kindes, das an der Veranstaltung teilgenommen hatte?
FATMA NUR YILMAZ
Wir treffen tagtäglich auf viele Menschen oder teilen dieselbe Umgebung mit Menschen, die anders als wir sind, ein anderes Aussehen, eine andere Denkweise oder eine andere Lebensweise als wir haben. Auf die Begegnungen mit uns unbekannten Menschen oder Situationen reagieren wir mit Verhaltensweisen wie Verblüffung, Empörung, Verständnis oder Intoleranz. Selbst wir – also diejenigen, die als „Erwachsene“ bezeichnet werden, haben manchmal keine bestimmte Haltung gegenüber uns fremden Situationen. Aus diesem Grund ist es falsch, die Haltung der Kinder, die in ihrem kurzen Lebensabschnitt beinahe alles von Ereignissen aus ihrem Umfeld erlernen, als „gewissenlos “ zu bezeichnen. Die Kinder leben in einer begrenzten Welt und begegnen demnach auch nur eine begrenzte Anzahl von Menschen. Aus diesem Grund ist die Verwunderung der Kinder bei der Begegnung mit Menschen, die ihnen selbst oder den Menschen aus ihrem Umfeld nicht nahekommen, selbstverständlich. Zudem kommt es hinzu, dass, wenn den Kindern zuvor nicht beigebracht wurde, wie sie sich bei solchen Situationen zu verhalten haben, kann es zumal zu Fehlverhalten kommen. Also müssten Eltern sich dessen bewusst sein, dass, wenn es zu so einem ähnlichen Vorfall kommt, die Situation nichts mit der Böswilligkeit ihres Kindes zu tun hat und sollten dem Kind keine Vorwürfe, die zur Verstärkung dieses Fehlverhaltens führen könnte, machen. Des Weiteren ist es auch nicht richtig, dem Kind, welches ein Fehlverhalten aufzeigt, mit Aussagen wie „Du trägst keine Schuld.“ oder „Du hast recht, so zu reagieren.“ entgegenzukommen. Wie in allen anderen Bereichen des Lebens müssten wir auch bei der Kindererziehung, insbesondere bei der Gewissenserziehung, die goldene Mitte finden und ebenso Übermaß und Diskriminierung vermeiden.
Ein Kind, das zum ersten Mal einem Messer begegnet, ist sich der Schärfe des Messers nicht bewusst. Aus diesem Grund kann das Kind das Messer furchtlos in die Hand nehmen. Doch in dem Moment, in der die Mutter das Messer in der Hand des Kindes sieht und mit großer Angst reagiert, wird dem Kind bewusst, dass das Messer ein gefährliches Objekt ist. Denn Kinder erlernen mögliche Verhaltensweisen auf bestimmte Situationen, von den Verhaltensweisen der Menschen aus ihrem Umfeld. Auch die Haltungsregeln werden in der Kindheit oberflächlich erlernt. Das Kind erwirbt die eigenen Verhaltensweisen nach den „gut“ oder „schlecht“ bewerteten Geltungen seines Umfelds. Die Stimme des Gewissens gleicht dem Klangwiderhall der Eltern. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, das Kind allein für sein Fehlverhalten verantwortlich zu machen. Empathie ist eine sowohl bei der Erziehung der Erwachsenen als auch bei der kindlichen Erziehung angewendete entscheidende Methode. Denn Menschen können sich nur dann miteinander identifizieren und verstehen, wenn sie sich jeweils in die andere Person hineinversetzen können. Angenommen, wir möchten den Kindern erklären, dass es eine gewissenhafte Pflicht ist Menschen materielle und moralische Hilfe zu leisten, welche aufgrund eines Krieges aus dem eigenen Land geflüchtet sind und in unserem Land Zuflucht suchen, könnte man beispielsweise mit dem Einfühlungsvermögen des Kindes gegenüber einem Flüchtling beginnen. Wir könnten den Kindern erklären, dass diese Menschen, die in unserem Land Zuflucht suchen, zuvor auch ein glückliches Leben wie wir führten, dass sie aber eines Tages von böswilligen, habgierigen Menschen aus ihrem Land vertrieben worden sind und wir sie eine Zeit lang in unserem Land willkommen heißen werden. Allerdings ist es auch hierbei sehr wichtig, dem Kind keine traumatisierenden Darstellungen eines blutigen Krieges zu machen. Ebenso sollten auch Aussagen vermieden werden, die zu einer Paranoia des Kindes führen könnten, die gleiche Situation zu erleben. Des Weiteren könnte man auch bei der Gewissenserziehung von Literaturarten wie Geschichten und Märchen, bei denen sich das Kind einfach in die Helden-Situation hineinversetzen kann, profitieren.
Kinder erlernen bestimmte Verhaltensweisen von Familienangehörigen oder von Personen aus ihrem Umfeld, zu denen sie sich herangezogen fühlen. Diese Verhaltensweisen werden durch Nachahmungen oder durch die Identifizierung mit dieser Person erlernt und werden mit der Zeit zu ihren eigenen Verhaltensweisen. Die Liebe und Wertschätzung zu Personen, deren Verhaltensweisen die Kinder nachahmen, spielt bei der Auswahl der zu nachahmenden Verhaltensweisen der Kinder eine enorme Rolle. Nicht nur in der Gewissenserziehung, sondern unabhängig davon, welche Erziehung vermittelt werden soll, kann ein natürlicher Lernprozess am besten ermöglicht werden, wenn Kinder die für die jeweilige Erziehung erforderlichen Verhaltensweisen an den Personen, zu denen sie eine feste Bindung haben, vorbildlich zu sehen bekommen. Aus diesem Grund ist es unsere Pflicht, die Verhaltensweisen, die wir unseren Kindern vermitteln möchten, zunächst einmal selber umzusetzen.