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n den 1960er-Jahren begann beiter unter sehr schweren Bedin- Was kann denn wohl passiert
aufgrund finanzieller Umstän- gungen in kleinen Wohnheimen, sein, dass die Migranten, die einst
de eine Migration aus der Türkei in welchen sie nicht einmal über zu einem enormen wirtschaftli-
Inach Europa, die auch als „Ar- eigene Toiletten und Badezimmer chen Wachstum des Landes bei-
beitermigration“ bezeichnet wird. verfügten. Sie erhielten keinerlei getragen hatten, auf einmal als
Nachdem die Aufnahme von neu- Unterstützung für die Anpassung ein Risikofaktor wahrgenommen
en Arbeitskräften irgendwann ge- in diesem Land, dessen Sprache und zu einem politischen Instru-
stoppt wurde, wurde die Migration und Kultur ihnen fremd war. Sie ment wurden?
nun durch Familienzusammen- wurden in körperlich belastenden
führungen und -gründungen fort- Arbeitsstellen als unqualifizier- Alles begann damit, dass rechts-
geführt. Eines der Länder, in wel- te Arbeiter eingestellt. Aus dieser radikale Parteien in Österreich an-
ches diese Migration sehr intensiv Perspektive betrachtet haben die fingen, die Migranten als eine Be-
stattfand, war Österreich. Im Jahr Gastarbeiter einen hohen Beitrag drohung zu sehen und mit ihren
1964 wurde der Vertrag für die „An- zu der wirtschaftlichen Entwick- rassistischen und diskriminieren-
werbung türkischer Arbeitskräfte lung Österreichs geleistet. den Äußerungen eine Art Wähler-
und deren Beschäftigung in Öster- stimmenkampagne betrieben. Der
reich“ zwischen Österreich und der Der türkische Migrationsprozess, Hauptgrund für ihr Unbehagen ist,
Türkei unterschrieben. Österreich der mit der zweiten Hälfte der dass der Gastaufenthalt der Mig-
beabsichtige mit diesem Vertrag 1950er-Jahre mit der Migration der ranten, die sie als Gastarbeiter be-
eigentlich, dass die bereits in Öster- Gastarbeiter in Europa begann, trachten, vorüber ist. Der Gast ist
reich arbeitenden Menschen nach durchlief fünf bestimmte Phasen, nun der Gastgeber. Sie sind nicht
einigen Jahren zurückkehren und die alle ein eigenes Diskussions- mehr vorübergehend, sondern
anstelle dieser Menschen neue Ar- thema darstellten. (Abadan-Unat, dauerhaft in Österreich und sind
beitskräfte aufgenommen werden. 2006): somit ein Teil Österreichs. Sie sind
Der Prozess verlief jedoch nicht wie nicht mehr nur Arbeiter, sondern
anfangs von Österreich erhofft. Die * 1950er-Jahre: Einzelunternehmer auch Arbeitgeber, Ärzte, Ingenieu-
eingewanderten Arbeitskräfte hat- und private Vermittler re, Polizisten und Soldaten. Die Kin-
ten allerdings auch zu Beginn ihrer der der Migranten zeigen nun in
Zeit nicht vor, dauerhaft in Öster- * 1960er-Jahre: „Export von steigen- jedem Bereich ihre Präsenz. Wenn
reich zu leben, sondern planten, der Arbeitskraft“ auf der Basis von allerdings Personen, die sich als
nach dem sie einige Jahre in Ös- bilateralen Verhandlungen durch Österreicher verstehen, in Öster-
terreich gearbeitet und einen Ver- staatliche Oberhand reich geboren und aufgewachsen
dienst beiseitegelegt hatten, die sind, sich perfekt integriert haben,
Rückkehr in ihr Heimatland. * 1970er-Jahre: Wirtschaftskrise, Ab- in Österreich studiert haben und
bruch der Aufnahme von ausländischen Beiträge zur österreichischen Ge-
Die hauptsächliche Migration aus Arbeitskräften, Gewährleistung des sellschaft geleistet haben, diskrimi-
der Türkei nach Österreich fand rechtlichen Status für "touristische" niert werden, so wird dies nur Was-
Ende der 1970er-Jahre statt. Da (illegale) Einwanderer, Familienzu- ser auf die Mühle derer gießen, die
sich die wirtschaftlichen Bedin- sammenführungen, Kindergelder unsere Gesellschaft spalten möch-
gungen nicht so entwickelten wie ten.
die Migranten, die als „Gastarbei- * 1980er-Jahre: Bildungsprobleme der
ter“ kamen, es sich vorgestellt hat- Kinder, Leben im Getto, Bildung der WIE BEGANN DIE KRISE DER
ten, entschieden sie sich allmählich Vereine, zunehmende Asylanträge, DOPPELTEN
dauerhaft in Österreich zu leben. Visumpflicht, zur Rückkehr motivie- STAATSBÜRGERSCHAFT?
Im Gegensatz zu den Planungen rende Gesetze
der österreichischen Behörden und Während der Wahlzeit für das Re-
Einrichtungen hat sich der Prozess * 1990er-Jahre: Gesetz für Auslän- ferendum der türkischen Verfas-
dahingehend entwickelt, dass sich der, Erwerb von Identifikationen sungsänderung im Jahr 2017, wur-
die Anzahl der Migranten durch Fa- von Ausländern, zunehmende Aus- den durch den türkischen obersten
milienzusammenführung und Ge- länderfeindlichkeit, Verbreitung Wahlvorstand Wählerlisten an die
burten stärker als geplant erhöhte. von ethnischen Unternehmen, Ver- Teilnehmerparteien gesendet. Die
breitung von ethnischen und reli- Parteien in der Türkei übermittel-
Die „Gastarbeiter“ akzeptierten giösen Vereinen, Forderung nach ten ihre aktuellen Wählerlisten an
schon in ihren ersten Aufenthalts- politischen Rechten ihre Repräsentanten in Europa.
jahren die schweren Arbeits- und Zwischen dem 27. März und dem
Lebensbedingungen und arbeite- * 2000er-Jahre: Islamophobie, Eu- 9. April wurden Stimmen für das
ten mit hoher Selbstaufopferung ro-Türken, das Einwanderungsge- Referendum der Verfassungsände-
trotz der abweichenden Familien setz, Integrationsprojekte (Güleç & rung in der Türkei in den Auslands-
- und Alltagsumstände, der man- Sancak 2009) vertretungen abgegeben. Nach
gelnden Sprachkenntnisse und der dem Referendum gab die rechts-
fremden Kultur. In den ersten Jah- radikale Freiheitliche Partei Öster-
ren der Migration lebten diese Ar- reichs (FPÖ) eine Liste mit 100.000
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