Familienausschuss: Sektenbericht sieht in multiplen Krisen einen idealen Nährboden für Ängste und Verschwörungstheorien
Weiterhin hoher Informations- und Beratungsbedarf bei der seit 25 Jahren bestehenden Bundesstelle
Wien (PK) – Über die aktuellen Entwicklungen im breiten Feld der alternativen religiösen, esoterischen und weltanschaulichen Bewegungen informiert wie jedes Jahr der umfassende Sektenbericht, der heute im Familienausschuss einstimmig zur Kenntnis genommen wurde. Die Leiterin der dafür zuständigen Bundesstelle Ulrike Schiesser sprach von einem „Jahr der Ängste“ und ortete eine massive Zunahme der antisemitischen Verschwörungstheorien. Waren es ab 2020 bis 2021 vor allem die Sorgen um die Gesundheit, die die Menschen bewegten, dominierte 2022 die Angst vor einem Weltkrieg, dem Einsatz von Atomwaffen, einem Reaktorunfall in der Ukraine, einem Blackout, Energieversorgungsengpässen, hoher Inflation und vor einer Wirtschaftskrise.
In Vertretung von Familienministerin Susanne Raab stand Staatssekretärin Claudia Plakolm dem Ausschuss zur Verfügung. Wie der Bericht deutlich zeige, gebe es weiterhin einen anhaltenden Bedarf nach der Tätigkeit der Bundesstelle, die nicht nur als wichtige Anlaufstelle für die Bürger:innen fungiere, sondern auch international sehr anerkannt sei. Im Besonderen hob Plakolm das zweijährige Sonderprojekt im Bereich der Extremismusprävention hervor, bei dem vor allem der Einfluss der sozialen Medien auf Kinder und Jugendliche untersucht werden soll.
Neue Themenschwerpunkte durch Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine sowie Wirtschaftskrise hinzugekommen
Der aktuelle Jahresbericht 2022 (III-968 d.B.) der Bundestelle für Sektenfragen zeigt auf, dass die Themen rund um die Coronakrise noch immer eine wichtige Rolle gespielt haben. Allerdings nahm der Verlauf der Pandemie sowie die sukzessive Rücknahme der Schutzmaßnahmen den einschlägigen Diskussionen ihre Schärfe. Der im Februar 2022 begonnene Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und dessen internationale Folgen sorgten dann für neuen Stoff für Verschwörungstheorien, die im Berichtsjahr wieder einen wesentlichen Anteil an den Anfragen an die Bundesstelle hatten.
Als genereller Trend sei zu beobachten gewesen, dass Menschen, die zuvor an coronabezogene Verschwörungstheorien geglaubt haben, auch die Verschwörungstheorien rund um die Ukraine für wahr hielten. Außerdem wandten sich die Personen zunehmend neuen Themen wie etwa dem Transhumanismus zu und Maßnahmen gegen den Klimawandel in Frage gestellt bzw. sogar vehement bekämpft. Allgemein war festzustellen, dass die antisemitische Hetze, wie sie vielen Verschwörungserzählungen zu eigen ist, nun auch um einschlägige Narrative rund um LGBTIQ+-Personen ergänzt werde.
Im Bericht besonders hervorgehoben werden die sogenannte Anastasia-Bewegung, die auf eine vom russischen Autor Wladimir Megre verfasste zehnbändige Buchreihe Bezug nimmt. Als besonders problematisch werden dabei die Auslegung der „Lehre“ in Form von rassistischen Denkmustern („Einzigartigkeit der wedischen Rasse“) sowie die daraus abgeleiteten pädagogischen Konzepte bewertet, die in vielen Fällen dazu führten, dass Kinder aus dem regulären Unterricht genommen werden. Ein wiederkehrendes Motiv in der Anastasia-Buchreihe seien die demokratiefeindlichen Tendenzen, die weiterhin beobachtet werden sollten. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund der vor allem in Deutschland festgestellten Vernetzung von Anhänger:innen in die rechtsextreme Szene.
Ein weiterer Schwerpunkt war die Darstellung von sogenannten Multilevel Marketing-Vertriebsformen, die weniger auf den Verkauf von Produkten, als vielmehr auf das Anwerben neuer Mitglieder abzielen. Bei den als problematisch eingestuften Strukturvertrieben, die hohe Einkommen in kurzer Zeit versprechen, handle es sich um Pyramiden- und Schneeballsysteme, die vor allem junge Personen ansprechen wollen. Es gebe auch Anlageberatungen in Form von Online-Finanzakademien, die Interessierten anbieten, neben dem Handel mit Kryptowährungen vor allem in den höchst riskanten Devisenhandel einzusteigen. Die nationalen und europäischen Behörden hätten oft keine rechtliche Handhabe, um gegen diese Firmen vorzugehen, urteilten die Autor:innen.
Bundesstelle: Nachfrage nach Information und Beratung weiterhin sehr hoch
Die im Bundeskanzleramt angesiedelte Bundesstelle für Sektenfragen, an die sich im Jahr 2022 insgesamt 2.013 Personen gewandt haben, steht seit 1998 als zentrale Service- und Anlaufstelle allen Privatpersonen und Institutionen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zur Verfügung. In ihren Aufgabenbereich fallen nicht nur Informations- und Beratungsleistungen, sondern auch Öffentlichkeits- und Medienarbeit sowie Vernetzungs- und Weiterbildungsaktivitäten. Das Spektrum der an sie herangetragenen Themen ist dabei sehr breit gefächert und reicht von alternativen religiösen Bewegungen über Esoterik und spezifischen Angebote zur Lebenshilfe bis hin zu fundamentalistischen Strömungen, Guru-Bewegungen und Verschwörungstheorien. Nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bundesstelle fallen die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften. Im Jahr 2022 bestand das multiprofessionelle Team der Sektenstelle noch aus fünf Mitarbeiter:innen, wobei nur zwei vollzeit- und drei teilzeitbeschäftigt waren.
Im Rahmen der umfassenden Informations- und Beratungstätigkeit werden Glaubensfragen oder religiöse Vorstellungen nicht beurteilt oder bewertet, wird im Bericht betont. Im Mittelpunkt stehe immer die Frage nach möglichen Gefährdungen für ein Individuum oder eine Personengruppe, die von „Sekten“ oder „sektenähnlichen Aktivitäten“ ausgehen können. An die Bundesstelle würden sich in der Regel Menschen wenden, wenn sie in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld bei Familienangehörigen oder Kolleg:innen eine „sektenartige“ Dynamik beobachten, eine Gemeinschaft auffallend missionarisch für sich wirbt bzw. deren Mitglieder sich innerhalb kurzer Zeit stark verändern. Im Jahr 2022 führte dies zu 431 Beratungsfällen bzw. 1.643 Kontakten.
Auch die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit hat sich in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Arbeitsschwerpunkt entwickelt, ist dem Bericht zu entnehmen. Es zeigte sich erneut, wie sehr die Bundesstelle als kompetente Ansprechpartnerin sowohl im Print-, Radio- als auch im TV-Bereich zu Recherche- und Interviewanfragen wahrgenommen wird. Allein im Jahr 2022 wurden Informationsanfragen von 124 Journalist:innen bearbeitet. Die Bundesstelle leitete zudem eine Arbeitsgruppe zu Verschwörungstheorien im Netzwerk Extremismusprävention und Deradikalisierung (BNED), die sich mit der Situation in Österreich und der Erarbeitung von Handlungsempfehlungen befasst, und kooperierte mit vielen anderen Einrichtungen.
Schiesser: Starke Zunahme von antisemitischen Verschwörungserzählungen
Man habe heuer ein Jubiläum gefeiert, da die Bundesstelle vor 25 Jahren offiziell eingerichtet wurde, stellte die Leiterin der Serviceeinrichtung Ulrike Schiesser fest. In diesem Zeitraum wurden über 38.000 Personen betreut und 12.900 Beratungsfälle abgewickelt. Was den Personalstand angeht, so konnte dieser im Vergleich zum Vorjahr mittlerweile von fünf auf zehn Mitarbeiter:innen erhöht werden, informierte sie, dies entspreche aufgrund der vielen Teilzeitbeschäftigten aber nur 4,8 Vollzeitäquivalenten. Erfreulich sei zudem, dass das Budget auf knapp 600.000 € erhöht werden konnte.
Schiesser berichtete sodann über die inhaltlichen Schwerpunkte der Beratungstätigkeit, die unter dem Begriff „Jahr der Ängste“ subsumiert werden könnten. Waren es zunächst Gesundheitsthemen wie etwa die befürchteten Nebenwirkungen von Impfungen, die im Mittelpunkt standen, wurden diese dann von Sorgen bezüglich des Angriffskriegs von Russland auf die Ukraine und den damit zusammenhängenden Folgen abgelöst. Generell könne man sagen, dass multiple Krisen immer eine „Hochsaison für spirituelle Angebote“ und einen idealen Nährboden für die Hinwendung zu einfachen Lösungen darstellen würden. Wieder verstärkt in Erscheinung getreten sei auch die Szene der Staatsverweigerer, um die es zuletzt etwas ruhiger geworden sei. Weiterhin orte man eine Sehnsucht nach einer heilen Welt, was unter anderem in sozialutopischen Projekten und die Gründung von Gemeinschaften, wie etwa im Rahmen der „Anastasia-Bewegung“, zum Ausdruck komme.
Fragen der Abgeordneten zu Schwerpunkten und speziellen Angeboten für Kinder und Jugendliche
Petra Wimmer (SPÖ) erkundigte sich danach, welche Schwerpunkte die Bundesstelle in der nächsten Zeit setzen wolle und ob zusätzliche Angebote für Kinder und Jugendliche z.B. an den Schulen geplant seien. Gudrun Kugler (ÖVP) hielt es für sehr wichtig, dass es die Bundestelle für Sektenfragen gibt, an die sich die Menschen direkt wenden können. Sie nehme für sich als Politikerin mit, dass man in der Kommunikation darauf achten müssen, nicht immer nur auf Krisen hinzuweisen. Auch Barbara Neßler (Grüne) sprach von einer sehr wichtigen Anlaufstelle und wollte wissen, ob es Überlappungen zwischen den einzelnen Szenen (z.B. Corona und Staatsverweigerer) gebe. Bei manchen Themen wie etwa dem Multilevel Marketing oder den Sorgen der Menschen vor einem Weltkrieg müsse man sich schon fragen, warum dafür die Sektenstelle zuständig sein soll, gab Wolfgang Zanger (FPÖ) zu bedenken.
Bei der im Bericht ausführlich dargestellten problematischen Form von Multilevel Marketing-Modellen handle es sich oft um eine Art Pyramidensystem, bei dem hohe Einkommen in kurzer Zeit versprochen würden, erklärte Schiesser gegenüber Abgeordneter Petra Wimmer (SPÖ). Angesprochen werden vor allem junge, teils minderjährige Personen, die sich großen Reichtum versprechen und in der Folge manchmal sogar die Schule oder die Lehre abbrechen. Diese würden auf Plattformen wie etwa Instagram auf speziell für junge Menschen zugeschnittene Angebote stoßen. Ebenso wie im Fall der bedenklichen Online-Finanzanlageberatungen würde den Jugendlichen vermittelt, dass sie nur das richtige Mindset brauchen würden, um erfolgreich zu sein. Bei solchen Fällen arbeite man auch mit der Finanz- und Wirtschaftspolizei sowie mit der Finanzmarktaufsicht zusammen, berichtete Schiesser. Außerdem sei geplant, gemeinsam mit der FMA Materialien zu erstellen, die zunächst den Multiplikatoren zur Verfügung gestellt werden sollen. Man überlege derzeit auch, wie man die Kinder und Jugendlichen noch besser erreichen können, etwa über neue Kanäle oder eine Chatfunktion.
Auf eine diesbezügliche Frage des Abgeordneten Alois Stöger (SPÖ) merkte Schiesser an, dass nur wenige Fälle der Beratungsstelle vor Gericht landen würden. Einerseits liege dies in der schwierigen Beweisführung, andererseits würden sich die Betroffenen oft schämen oder nicht bereit sein, einen Prozess anzustrengen. Andererseits sei die Expertise der Mitarbeiter:innen aber oft bei Gerichtsverfahren gefragt, vor allem bei Sorgerechtsstreitigkeiten.
Zu dem von der Staatssekretärin angesprochenen zweijährigem Sonderprojekt führte Schiesser aus, dass im Rahmen eines Online-Monitorings österreichische Telegram-Kanäle im Hinblick auf Verschwörungstheorien und demokratiegefährdende Inhalte überprüft werden. Ein erster Bericht soll Ende Dezember erscheinen. Als ein großes Narrativ tauche oft der sogenannte „Great Reset“ auf, wobei etwa vor einem Bevölkerungsaustausch gewarnt werde. Darin eingebettet würden dann aktuelle Ereignisse wie zum Beispiel der Krieg gegen die Ukraine oder der Klimawandel. Seit der Krise im Nahen Osten hätten die antisemitischen Verschwörungserzählungen massiv zugenommen.
NEOS-Vertreterin Fiona Fiedler teilte Ulrike Schiesser mit, dass der Sonderbericht zum Thema Abschottung Ende Dezember vorgelegt werden soll. Dieser wird sich mit möglichen auftretenden Problematiken bzw. Gefährdungen in Zusammenhang mit dem häuslichen Unterricht bzw. Schulabmeldungen beschäftigen. Was man jetzt schon sagen könne, sei, dass sich die Schulabmeldungen mittlerweile auf dem Vor-Corona-Niveau einpendeln würden, stellte sie gegenüber Abgeordneter Sibylle Hamann (Grüne) fest.
Der bei der Abstimmung von allen Fraktionen zur Kenntnis genommene Bericht wurde heute im Ausschuss enderledigt. (Schluss Familienausschuss) sue
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